Auf und davon ins Glück

Fernab der langweiligen Heimat ist alles besser. Meine ehemaligen Nachbarn, Frau und Herr Keller mitsamt Kind und Kegel, haben vor einem Jahr dem Sackmesser-Toblerone-Cervelat-Land entschlossen den Rücken gekehrt, sich dem übertriebenen Bürokratismus und dem fehlenden Gespür für Spassigkeit fluchtartig (aber wohlüberlegt) entzogen. Eine richtige Entscheidung. Bravo, gut gemacht!

Der typische Schweizer, so Herr Keller, sei allzu sehr in sich ruhend, es fehle ihm an Aufgeschlossenheit und Geselligkeit. Direkt: Sie hätten die Schnauze gestrichen voll von diesen Bünzlis in und um Oberschaechen, müssten den Recycling-Weltmeisterinnen und Pünktlichkeits-Fanatikern entkommen. Wie recht er doch hat.

Der unwiderrufliche Abflug Richtung Traumland sei – dem Vernehmen nach – organisatorisch und logistisch ein Klacks, finanziell durchaus tragbar, kulturell ein Gewinn und sowieso und überhaupt... Diese bestechenden Argumente spielen der immer grösser werdenden Schar von ekstatischen Ausreiseentschlossenen in die neu gemischten Karten. So auch den Ks.
Frau K übernahm bei der Planung pragmatisch den Lead und bereitete den – unmittelbar bevorstehenden – Umzug verantwortungsvoll vorausschauend vor: Unterkunft gesucht und gebucht, nach einem Broterwerb Ausschau gehalten, die Ausbildungsstätte für die Jungmannschaft eruiert, die zehn wichtigsten Wörter der norwegischen Sprache gelernt (Nr. 1: «Hei!»; Nr. 2: «Nei!»; Nr. 3: «IkbrøkkeVålium» (Beruhigungsmittel…), auf finanzielle Reserven geachtet (100 Euro pro junge und alte Person sowie – besonders wichtig – eine eiserne Reserve von 10 Euro).
Zumindest hatte sie all dies versucht. Dafür zolle ich ihr meinen allergrösstmöglichen Respekt. Hut ab!

Die Reise gen Norden verlief problemlos. Lediglich die Überquerung der Barentssee ab norwegischem Festland hin zur Zielinsel dauerte etwas länger als erhofft. Der Kapitän des Fischerbötchens brauchte erst zwei Tage, bis er verstand, was die redselige Spezies von ihm wollte (vielleicht hätten sie doch mehr als zehn Wörter…), dann weitere fünf Tage. Sei’s drum.
Niemand hat allerdings ahnen können, dass das für sechs Monate zwecks Akklimatisation gebuchte Familien-Iglu in Hjørungerastavåg (oder so…) auf Spitzbergen von einem Rentier, zwei Eisbären (in der Brunst!) und drei Polarfüchsen in Beschlag genommen worden war. Derlei kann passieren, wenn die Eigenheiten im Zuzugsland gar eigen sind. Bitte, keine Vorwürfe an die Ks also!

Und ohnehin: Gibt es etwas Romantischeres, als in den ersten (Iglu-freien) Wochen bei 10 bis 35 °C (minus natürlich) im nördlichsten Norwegen die dortige Fauna und Flora unter freiem Himmel kennen zu lernen? Nicht, oder? Eingebuddelt in das Schnee-Eis-Gemisch, erwärmt an Leib und Seele von einem Kerzelein geniesst man Natur pur. Den langweiligen Eidgenossen bleibt so etwas ein Leben lang verwehrt. Na also!

Auch die Pflanzenwelt ist vorhanden – und wunderschön. Allerdings wird sie in Hijörunkerastavähhg? Jöörrunngerasttawvåg? Hjørungerastavåg! während 351 von 365 Tagen vom Eis bedeckt. Pech für die Kellers. Aber wer hätte das denn wissen können? Sie etwa?

Immerhin nutzte die Familie die einmalige Gelegenheit, wilde Tiere in ihrem natürlichen Ambiente zu beäugen und zu studieren. Dies verlief jedoch nur katastrophenfrei, weil die Bären intensiv beschäftigt abgelenkt waren (s. oben). Nun wusste die Familie aus dem einzigen Land, in dem die Soldatinnen und Soldaten ihr «Sturmgewehr 90» (ohne Munition…) mit nach Hause nehmen dürfen, warum bewaffnete Einheimische auf Spitzbergen ganz normal sind, ebenso Schilder an Cafés mit der Anweisung: «No guns allowed!»

Was das Berufliche angeht, hatte sich Frau K auf die idealen Umstände in der nunmehr hiesigen Ferne verlassen. Herr K hatte im Heidi-Land als eidg. dipl. Bademeister amtiert und kassiert, sie part time als Hydrologin (eine Art Fachfrau für alles, was mit Wasser zu tun hat) doziert. Da Spitzbergen und alles rundherum einen Wasseranteil von 99,999999 % aufweist, sah die Familie eine glorreiche berufliche Zukunft vor sich. Das kann ich nachvollziehen, das liegt doch auf der Hand!

Leider, leider dauerte die Jobsuche ein klein wenig länger als geplant…
Was die Ausbildung der beiden Teenie-Töchter Kia und Lada (ich weiss, was Sie jetzt denken. Männer halt…) sowie vom 7-jährigen Mazda (Jaaaaahhh...), dem «Kegel», (er gleicht dem Oberschaechener Pöstler wie ein Landei dem anderen; niemand sprach darüber…), war nichts dem Zufall überlassen worden. Die einzige Schule auf Spitzbergen überzeugt mit einem vielseitigen Angebot für 1- bis 25-Jährige mit einem IQ von 50 bis 350. Alle (gepiesackt) unterrichtet von Frau Skjeggestad-Østberg – einer 85-jährigen Dame, die sämtliche Namen der Einheimischen korrekt schreiben kann! Und das heisst etwas… 

Apropos Einheimische: Auf der norwegischen Insel leben 0,04 Einwohnern pro km²; in der Schweiz sind es über 200. Natürlich sind unter diesen Umständen besondere Bemühungen nötig, um der im ehemaligen Wohnland so vermissten Geselligkeit zu frönen. Unübertreffliche Möglichkeiten zu vertiefter Kommunikation bot sich den Ks jeweils beim Erscheinen des Pöstlers – immerhin kam er 4-mal pro Jahr. Genau dies sind doch die Highlights, für die man die triste Schweiz verlassen hat!

Und überhaupt: Hauptsache, die Familie war gesund und – vereint. (Es blieb ihr auch kaum etwas anderes übrig…)
Als kleines Malheur stellte sich in HöörrunngerasdtawvÅg oder genauer: Hjøruhü… (Ach, lasst mich doch in Ruhe!) heraus, dass sich die unpassierbaren Eisklumpen zwischen dem mittlerweile zurückeroberten Iglu (zwischen 12,63 und 37,36 m² Wohnfläche – schwankend je nach Sonneneinstrahlung) und der Lehranstalt (ein richtiges Haus aus Holz und Beton!!!) nur während einer bis zwei Wochen im Jahr zu einer garantiert gefahrlos begehbaren Eisfläche verbinden liessen. (Schuhkrallen- oder Steigeisen-Pflicht!) Keine Kritik, bitte! So etwas lässt sich schlicht nicht planen.

Den kleinen Unpässlichkeiten zum Trotz ging die 5-köpfige Familie frisch, fromm, fröhlich, frei ans Werk. Am Dienstag sorgte ein aufgespiesster Eisfuchs fürs kulinarische Wohl, ein paar Tage später flogen einige Eissturmvögel ins gebastelte Netz. So liess es sich – für einige Tage zumindest – grandios (über)leben.

Die letzte Postkarte (das Internet auf der Insel steht ausschliesslich der Bürgermeisterin von H…, dem Polizisten und dem einzigen dort stationierten norwegischen Soldaten zur Verfügung) erreichte uns übrigens vor einer Woche: «Liebe Grüsse von der schönen Insel.»

Absender: ein Pflege- und Auffanglager für verletzte Polarfüchse, arbeitslose oder gesundheitlich beeinträchtigte Spitzbergerinnen und Spitzberger, vergessene Soldatinnen sowie für – gescheiterte Auswanderer!


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