«Einmal Velo, bitte!»

Kürzlich stiess ich auf ein Online-Inserat, ein Angebot für ein Schweizer Militärvelo aus dem Jahr 1942 für 700 Franken: 1-Gang-Schaltung, 22 kg, Rücktrittbremse. Dem Gefährt konnte man einen gewissen Retro-Charme nicht absprechen und ich spielte kurz mit dem Gedanken, den flotten Drahtesel zu erstehen. Nun war eine Mobilmachung demnächst aber eher unwahrscheinlich und der eine Gang schien mir dann doch etwas knapp bemessen.

Trotzdem: Die Idee, den Arbeitsweg von 10 Minuten und 10 Minuten (mit dem Auto) inskünftig mit einem Velo zurückzulegen, war geboren. Mit den geschätzten zweimal 30 Minuten für hin und zurück konnte ich drei Fliegen mit einer Klappe erschlagen: die Kosten senken, meinen desolaten Fitnesslevel erhöhen und der Umwelt einen Gefallen tun. Das machte den Zeitverlust mehr als weg. Eine gute Idee – finden Sie nicht?
Drei Tage später stehe ich bereits in einem Bike-Shop: «Petra’s Rad-Paradies». Velos wie Sand am Meer: grüne, rot, graue, kleine, riesige, komische. Sie scheinen mich überraschter anzustarren als ich sie: eine Begegnung zweier Welten.
Eine hübsche Verkäuferin, deren Outfit und schwarze Hände aber eher auf eine velomechanische Ausbildung hinweisen, begrüsst mich freundlich. Die junge Dame (vermutlich Petra) versteht mit Sicherheit ihr Handwerk. Was denn mein Wunsch sei, fragt sie mit einem herzlich-heiteren Lächeln.
 
«Ich hätte gerne ein Velo.»

Die Detailhandelsangestellte oder Fahrradmechanikerin oder beides schaut mich etwas perplex an. «Woran haben Sie denn gedacht?», wird sie nun konkret. Dass ich gerade Single bin und sie sehr attraktiv, will sie bestimmt nicht hören – zumindest nicht im Hier und Jetzt…
«Drei Gänge dürften reichen – einen für aufwärts, einen für flach, einen für abwärts.» Ihr Gesichtsausdruck wechselt nun von Erstaunen zu Verwirrtheit. «Aha – nein, ich meine, brauchen Sie ein Rad nur für die Stadt oder sind Sie eher sportlich interessiert?» Diese Entweder-oder-Frage überfordert mich: ein Dilemma. «Hin und wieder schaue ich Fussball, das schon. Auch dem Billardspiel fröne ich gelegentlich. Ansonsten möchte ich ein Velo, und zwar um zur Arbeit und danach wieder nach Hause zu radeln. Ich wohne auf dem Land.» Nach zwei, drei Sekunden muss die Fachfrau begriffen haben, dass kein Spassvogel vor ihr steht, sondern ein blutiger Rad-Laie, eine Art «Velodiot». «Vielleicht könnten Sie mich beraten», versuche ich die für uns beide peinliche Erkenntnis zu entschärfen. 

Ein folgenschwerer Fehler!

Als habe die eben noch leicht Desorientierte nur darauf gewartet, werde ich in den nächsten gefühlten zwei Stunden mit einem Sturm von Fachbegriffen überflutet – unterbrochen von ebenso gut gemeinten wie vergeblichen Versuchen, mir das Unverständliche verständlich zu machen. Dieses Citybike (899 Franken) biete auf jedem Terrain und für jeden Anwendungszweck unbegrenzten Fahrspass. «Sie können damit nur zur Arbeit fahren, aber auch mehrtägige Ausflüge mit Gepäck unternehmen – kein Problem.» Während wir wie eng Vertraute durch das Geschäft flanieren, nicke oder lobe ich immer wieder mal anstandshalber. Begreifen tue ich nichts.
Offensichtlich – das habe ich bemerkt – haben wir nun den Bereich «Mountainbikes» erreicht. «Das Ibex-Downhill-Bike mit Sattelstütze aus Aluminium und maximalem Federweg und kostet nur 7'999 Franken. Ein Schnäppchen, wenn Sie bedenken, dass man damit sogar auf Schlamm und Schnee vorankommt.» Ich gebe mich betont beeindruckt, während ich mich in irgendeiner Pampe am Ende der Welt elendiglich ersaufen sehe. Tröstend begleitet nur von meinem Schnäppchen-Bike.
Die Liebreizende im Mechaniker-Overall (dennoch tippe ich mittlerweile eher auf einen Detailhandelshintergrund mit zahlreichen Weiterbildungen in Verkaufsstrategie) ist nun klang-fachlich nicht mehr aufzuhalten.
 
Ihre Stimme höre ich klar und deutlich, aber zum Gehirn stossen nur Wortfetzen vor.

Während mir (nicht zufällig) der Film «Unstoppable» mit Denzel Washington einfällt, schwärmt sie von der aussergewöhnlichen Kombination aus Stabilität, Gewicht (13 kg) und Komfort des Trekking-Bikes «Serious Ghost black matt» (6'666.66 Franken – ein Sonderangebot) mit der weltbesten Nabelschaltung. Tatsächlich bin ich beeindruckt. Nicht vom «Ghost», dafür von der Absurdität des Preises und der Tatsache, dass in die Stabilität 28 Gänge eingebaut worden sind. Schon sehe ich mich als Erstbefahrer des Mount Everest mit Trekking-Velo. Oder müsste ich da eher das Mountainbike… Egal.
Dem allwissenden Strahlen meiner Führerin entnehme ich, dass wir nun in eine ganz besondere Abteilung des kleinen Ladens vorstossen. Hier stehen putzige Velos in Reih und Glied, die mich an indische Rikschas erinnern. «Mit diesem ‹Scott-Cargobike unisex› kann Ihre Frau mit Kind und Hund auf Einkaufstour gehen. Absolut trendy!»
 
Das Wort «Sex» holt mich in die reale Welt zurück.

Wunschdenken. Frau habe ich keine. Ein Kind (soweit mir bekannt) auch nicht. Einen Hund hätte ich aber gerne. Als die mechanisierte Topverkäuferin das winLoc-Federungssystem und die 66 (schon wieder…) Gänge rühmt, schweifen meine Gedanken nostalgisch zurück zum Schweizer Militärvelo und dessen funktionaler, aber anmutiger Simplizität. Dabei frage ich mich, wie die Schweizer Velo-Kampftruppen per 1-Gang-Rad in die Schlacht gezogen wären, hätte es denn sein müssen. Zwar hatten wir mit Ferdy Kübler einen Tour-de-France-Sieger. Aber ob dies einen Krieg entschieden hätte…
Noch bevor wir in Richtung High-End-Bikes und Langstrecken-Spezialräder zur nächsten «Radtour» abbiegen, die meine Gehörrezeptoren im Innenohr wohl zur Aufgabe aufgrund Erschöpfung zwingen würde, verweise ich, meine Armbanduhr antippend, auf einen wirklich wahnsinnig wichtigen Termin und verspreche, morgen ein Rad in diesem tollen Geschäft zu kaufen. Mein Favorit sei der «Ghost». Feige – ich weiss…
In Tat und Wahrheit werde ich in die Vergangenheit flüchten – trotz der attraktiven Verkäuferin oder Velotronikerin. An den einen Gang und die Rücktrittbremse werde ich mich bestimmt gewöhnen…


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