Endlich! Die vorsintflutlichen Kraftkeller mit ein paar rudimentären Kraftmaschinen und dem einen oder anderen abgehalfterten Ausdauergerät haben ein für alle Mal ausgedient! Wer will schon inmitten schwebender Schweissschwaden, auf rissigen Polstern und inmitten von Magnesia-Spuren auf Theke, Böden und Hanteln seine Fitness fördern? Sie etwa?
Diese muskelprotzigen Eisenfreaks, dieses dämliche Old-School-Gehabe mit Gewichten von über 10 kg. Geht gar nicht – ist ungesund – bringt nichts!
Ich stehe entrückt verzückt im Eingangsbereich des SPA-ähnlichen Fitness- und Wellnesscenters. «Hier findest du auf drei Etagen und 120’000 Quadratmetern Innen- sowie 20’000 Quadratmetern Aussenfläche alles, was deinen (?) Körper braucht», schwärmt und wirbt eine langblondhaarige Aphrodite. Noch bevor ich das erste Gerät erblicke und während ich überlege, wie die Schönheit wissen kann, wonach sich mein Körper sehnt, werde ich bodygescannt. Mittels Infrarotlicht werden Körperzusammensetzung, Figur und Fitness erfasst und analysiert. Wo gibt es denn so etwas? Fantastisch!
Während ich Aphrodites Körperbau diskret studiere, trägt mir eben diese die Ergebnisse der Untersuchung mit nunmehr etwas strengerer Stimme vor. Erstaunen, Ernüchterung, Erschrecken: «Für dein hohes Alter (ich bin 51) hast du zu viel Muskulatur und zu wenig Fett. Damit liegst du fernab der medianen Wellness- und Gesundheitskurve, hast von Belastendem im Über-, vor (?) Nötigem ein Untermass.» Was sie mit ihren ausufernden Ausführungen meint, ist mir nicht restlos klar; mir fallen Ferien am Mittelmeer ein. «Du weichst massiv vom Goldenen Schnitt ästhetischer Proportionierung ab. Darauf (?!) müssen wir arbeiten.» Auch diese Aussage erhellt mich nicht abschliessend. Hingegen wird mir klar, der personifizierten Sinneslust vor mir nicht zu genügen. Das ist fatal; das muss ich ändern!
Ich schäme mich zutiefst beim Gedanken an die beiden Pokale, die zu Hause auf einem Regal posieren: für einen 2. Rang bei der Berner Stadtmeisterschaft im Gewichtheben und für den «Mr. Bümpliz» im Bodybuilding. Ein unverzeihlicher Missbrauch an Schnitt und Goldenem Median … oder so. Wie konnte ich nur?!
Was mir Trost spendet, ist das «…müssen WIR arbeiten». Ich sehe mich bereits dauer-Händchen-haltend mit A. als Mitglied der hiesigen goldigen Wellness-SPA-Familie – der gelenkbelastenden Muskulatur entledigt, ästhetisch proportioniert akzeptiert. Da erscheint mir der Jahresbeitrag von 2'999 Fränkli geradezu geschenkt.
Die Göttin der Schönheit führt mich in eine riesige Halle: «Das ist der 'Bereich 0'. Hier wirst du wohl zwei, drei Jahre an dir feilen.» Überwältigung erfüllt mich beim Anblick von vielleicht zwei Dutzend Ufos – ein futuristischer, edelstahlglänzender Gerätepark. Der Wahnsinn!
Roswell 1947 fällt mir ein. Tatsächlich sehe ich Aliens, die einem unbekannten Objekt entsteigen und alsbald in einem anderen verschwinden. Das Roswell-Geheimnis ist gelüftet – hier sind sie also. Bachs Weihnachtsoratorium besäuselt beruhigend im Hintergrund. Es ist Juli – das ist innovativ. So wie die Schokoladen-Hasen, die alljährlich ab Februar die Kundschaft zum Kauf locken. «Hier trainieren über 70-Jährige, Rekonvaleszente und Übereifrige wie dich (!).» A. darf so viele grammatikalische Fehler machen, wie sie will – egal. Ich bin einfach nur freudetrunken und -strahlend.
«43 Prozent dieser Geräte der Generation++ sind selbstwiderstandsgebend. Sie mobilisieren somit deine Mobilität ohne Gefahr einer ungesund starken mobilen Muskelkontraktion deinerseits.» Ganz kurz hypermobile ich und mache mir über die Zahl 43 Gedanken angesichts der Anzahl an Ufos – werde dann aber wieder erfasst von der einmaligen Atmosphäre und dem überzeugenden Trainingskonzept in Halle 0 – dem Ufo-Land. Eben wandelt eine Kundin von geschätzten 99 Jahren per Rollator von einem kühlblau glänzenden zu einem sanftbeige schimmernden Hightech-Gerät. Drei Ufos++ weiter hinten, schwenkt ein Gipsbein im Schneckentempo auf und ab. Offenbar ein Rekonvaleszenter auf dem wiegenden Weg in die mediane Wellness- und Gesundheitskurve. Alles in mir sinnt, trachtet, lechzt jetzt nach dem Goldenen Schnitt ästhetischer Proportionierung. Ich pack das!
A. verweist derweil auf die weiteren SPA-Möglichkeiten: «Überfordere dich niemals nicht. Nutze zwischendurch unser umfassendes Palettenangebot (??). Mani- und Pediküre, Coiffeur, Massage, Akupunktur, Sauna, ein Nagelstudio. All das steht dich (!!) jederzeit zur Verfügung!» Aha! Aber die Haare habe ich doch einigermassen schön und mit bestrassten Fingernägeln mag ich nicht wirklich im selbstwiderstandsgebenden Bereich 0 rumflanieren. Aber egal: Den rekonvalenszierenden Scheintoten würd’s wohl eh nicht auffallen…
Jetzt kommt’s: «Wenn dir danach ist, legst du dich auf unsere Landschaftsterrasse. Dort ist es so richtig kuschelig.» Adrenalinschub, Testosteronexplosion! Ich und A. – A. und ich: eng umschlungen, sonnengoldbeschienen und -erwärmt. Ich schwelge in vorfreudiger Glückseligkeit!
Leider, leider aber holt mich die Göttin meiner Begierde hammerhart, ruck- und schlagartig auf den steinharten Boden der Realität zurück: «Ich leite die Halle 1», wird sie nun konkret. «Das ist der letzte Bereich vor dem höchsten Level. Erst dort – in Halle 3 – trainieren diejenigen, die es in die mediterrane (!?) Wellness- und Gesundheitsblase geschafft haben.»
Ich versaufe ob dieses verbalen Keulenschlages auf den Hinterkopf quasi im Mittelmeer – mit Strass an den Nägeln und den Haaren schön. Zwei, drei Jahre in Roswell als Alien von Ufo zu Ufo wandeln. Ohne A. – stattdessen umrahmt von geifernden Gruftis und pendelnden Gipsbeinen. Inferno, Waterloo, Armageddon!
Möglichweise hat der Hieb nicht nur mein Haupt heftig getätschelt, sondern auch mein Innersten tief ergriffen. Mit einem Schlag (schon wieder…) erscheint mir das hier im SPA-Universum derart verpönte Old-School-Ambiente doch überhaupt gar nicht mal mehr so daneben. Schon rieche ich den Schweiss, spüre Belastungen ausserhalb des goldenen Medians, möchte Eisen (über 10 kg!) in die magnesiasierten Hände nehmen. Den «Mr. Bümpliz» – nein, den werde ich nicht entsorgen…
…und am Rande: Auch im Kraftkeller gibt’s A.s – einfach etwas muskelmassiger – aber garantiert grammatikalisch sattelfester. Let's go back to the roots!